VON ANGELA DELONGE, Aachener Nachrichten/ Aachener Zeitung am 21. März 2012
Aachen. In der Öffentlichkeit Mut zu zeigen, fällt den meisten Menschen schwer. „Das geht mich doch gar nichts an“, „Was kann ich schon tun?“, „Hier ist doch bestimmt einer zuständig“ sind die Einwände, mit denen wir uns rechtfertigen, wenn wir in unangenehmen Situationen nicht einschreiten, untätig bleiben. Trotzdem fühlen wir uns oft betroffen und wollen helfen, wenn andere – Kinder, Jugendliche, Erwachsene – belästigt, gedemütigt oder bedroht werden.
Unter dem Motto „Hätte ich doch nicht weggeschaut!“ widmete sich der erste Fachtag der Jugendämter der Städteregion Aachen dem Thema „Zivilcourage als sozialer Mut im Alltag“. Im Rahmen der Aktion „Im Blick – Zivilcourage stärken“ sollte der Blick diesmal auf „die vielen kleinen Situationen im Alltag“ gelenkt werden, wie Angelika Degen als Vertreterin der Jugendämter in der Städteregion betonte. Eingeladen und zahlreich erschienen waren Multiplikatoren aus Schulen, Jugend- und Bildungseinrichtungen, Freie Träger aus der Jugendhilfe sowie Vertreter von Firmen, die als Kooperationspartner des Netzwerks zur Stärkung und Förderung des Kinder- und Jugendschutzes tatkräftig helfen. Sie alle wollten wissen: „Kann man couragiertes Handeln lernen?“
Haltung gegen Gewalt
Dass man das kann, bestätigte die Schirmherrin der Aktion und Bundesgeschäftsführerin des Deutschen Kinderschutzbundes, Paula Honkanen-Schoberth: „Kaum jemand von uns wird als Held geboren.“ Eine Haltung gegen Gewalt könne man lernen, dazu brauche es bewusste Auseinandersetzung, bewusstes Hinsehen und -hören sowie bewusstes Handeln. „Muss denn jemand verletzt sein oder in Lebensgefahr, bevor man sich einsetzt?“, fragte Honkanen-Schoberth und forderte, beim Thema Zivilcourage im Übrigen „viel mehr auf das kreative Potenzial von Jugendlichen“ zu setzen, das hier „auf beispielhafte Weise miteinbezogen wurde“. Das war ein großes Lob für die Theatergruppe aus Jugendlichen verschiedener Kommunen der Städteregion, die das Theaterstück „Betti tut was“ von Bettina Begner aufführten.
Wichtige Impulse für sozialen Mut im Alltag gab auch Professor Gerd Meyer, mehrfach ausgezeichneter Politik- und Sozialwissenschaftler von der Universität Tübingen. „Auch jenseits von Gewalt ist Zivilcourage gefragt“, so Meyer. „Wir hören fremdenfeindliche Äußerungen, sehen diskriminierende Handlungen, beobachten sexuelle Übergriffe – in der Familie, im Freundeskreis, im Betrieb, in der Kirche, im Verein, in der Partei.“ Das seien Bereiche, die beim Thema Zivilcourage meist vernachlässigt würden. Aber auch hier, jenseits von gewalttätigen Situationen, treibe uns die Frage um: „Soll ich, will ich, kann ich eintreten für andere, die ungerecht behandelt werden? Traue ich mich, der Mehrheit zu widersprechen,gegen den Strom zu schwimmen, anzuecken, eine eigene Meinung zu haben?“
Kurz und prägnant führte Meyer den Teilnehmern vor Augen, dass sozialer Mut beileibe keine Charaktereigenschaft sei, sondern vielmehr eine bestimmte Form sozial verantwortlichen Handelns. Ob jemand Zivilcourage zeige oder nicht, hänge von verschiedenen, äußerst komplexen Faktoren ab. So sei eine gewisse Nähe zu der bedrohten Person ein wichtiges Argument. „Menschen, die uns unsympathisch oder unheimlich sind, helfen wir nicht so gerne wie Menschen, die uns nahestehen oder die wir mögen, so Meyer. Außerdem gelte: Je mehr Leute involviert sind, desto weniger wird geholfen. Entscheidend sei auch, dass man von ein, zwei oder drei weiteren Personen in seinem Tun unterstützt werde.
Meyer machte deutlich, dass Menschen auch je nach Situation anders reagieren: „Nicht jeder, der im Beruf oder auf der Straße mutig ist, ist es auch in der Familie und umgekehrt.“ Bei Menschen, die zivilen Mut zeigen, verbinde sich die Empörung mit der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen. „Erst, wenn eine Wertgrenze für mich überschritten ist, werde ich aktiv“, so der Wissenschaftler. Schließlich gehörten auch die eigenen biografischen Erfahrungen in den Mut-Cocktail: „Hatte ich zu mindestens einem Elternteil Vertrauen? Habe ich Wertschätzung durch meine Eltern erfahren? Durfte ich als Kind meine Meinung frei äußern? Hatte ich gute Vorbilder?“ Wer diese Fragen positiv beantworten könne, habe in der Regel Autonomie in Bezug auf seine Urteilsfähigkeit erworben und sei eher in der Lage, zivilen Mut zu zeigen.
Darüber hinaus sei Zivilcourage aber auch gezielt erlernbar – in Seminaren oder mit Hilfe von Büchern, die meist ein ganzes Repertoire an Strategien liefern. Zu guter Letzt hatte Meyer folgende Ratschläge für das Erlernen zivilen Mutes: Jeder solle zehn Prozent mehr wagen als bisher, öfter Nein sagen, und weniger schnell Ja.“Werden Sie sich Ihrer eigenen Kräfte bewusst“, machte Meyer den Teilnehmern Mut: „Fragen Sie: Was kann ich? Und nicht: Warum geht das nicht?“ Dennoch müsse sich jeder darüber im Klaren sein, dass „der persönliche Mut eher langsam wachse“, so das Fazit des Wissenschaftlers.