
Ein Zuhause braucht Geborgenheit – Fachtag rückt die Auswirkungen häuslicher Gewalt auf Kinder in den Fokus
Als Fortführung der Kampagne #unschlagbar (hier klicken) kamen am 04. Juni 2025 auf Einladung des Netzwerkes „ImBlick“ zahlreiche Fachleute aus Jugendhilfe, Gesundheitswesen, Justiz, Polizei und Bildung der Region zusammen, um sich gemeinsam einem bedrückenden, aber hochrelevanten Thema auseinanderzusetzen: Gewalt im häuslichen Umfeld – und ihre oft verheerenden Folgen, insbesondere für Kinder.
Gewalt hinter verschlossenen Türen bleibt allzu oft unsichtbar, dennoch ist sie Realität für viele Kinder. Und sie hat viele Gesichter. Die Kinder erleben physische, psychische und ökonomische Gewalt bis hin zu sexueller, bzw. sexualisierter Gewalt – und zwar in ihrem direkten Lebensumfeld. Dabei kommen die einzelnen Formen der Gewalt selten isoliert vor. Kinder sind außerdem nicht immer die unmittelbaren Opfer und geraten deshalb oft aus dem Fokus.
Doch auch miterlebte Gewalt, meist zwischen vertrauten Personen, hinterlässt tiefe Spuren. Ein Gefühl der Machtlosigkeit und der Schuld ist bei den Kindern besonders stark ausgeprägt. Kinder sind also IMMER betroffen und die Folgen für sie sind dramatisch. Kinder, die Zeugen oder Opfer häuslicher Gewalt werden, entwickeln überdurchschnittlich häufig Ängste, depressive Symptome, Entwicklungsverzögerungen oder Verhaltensauffälligkeiten. Ihr Grundvertrauen in andere Menschen ist erschüttert – mitunter ein Leben lang.
Das Thema der miterlebten häuslichen Gewalt gerät häufig in den Hintergrund. Den Kindern selber sei ja schließlich nichts passiert. Oder?
Nach einer Einstimmung in das Thema mit dem kurzen Filmclip „Häusliche Gewalt hat viele Gesichter“ der Frauenberatungs- und Kontaktstelle Gelsenkirchen (hier klicken), näherten sich die beiden Moderatorinnen des Fachtages dem Thema zunächst aus wissenschaftlicher Sicht.
Annelie Molapisi, Rechtswissenschaftlerin und Kriminologin und Marie Boose, Politikwissenschaftlerin und ebenfalls Kriminologin, beschäftigen sich seit 2020 mit Wissenschaftskommunikation, u.a. in Form des Kriminologie-Podcastes „KrimSchnack“ (hier klicken).
So wie bei den breiten Themen ihres Podcastes berichteten beide auch hier über die Ursachen, Phänomene und Auswirkungen, aber auch über die Einordnung und den Umgang der Gesellschaft mit häuslicher Gewalt.
- Die Präsentation des Vortrages kann man hier herunterladen.
Zusammenfassend lässt sich aus dieser Einführung festhalten, dass häusliche Gewalt alle gesellschaftlichen Schichten betrifft.
Sie folgt dabei meist einem wiederkehrenden Muster. Nach einem Spannungsaufbau mit dem anschließenden Ausbruch der Gewalt folgt meist eine intensive Versöhnungsphase, bis hin zum „Lovebombing“ und eine Ruhephase, die allen Familienmitgliedern oft wieder Hoffnung auf einen harmonischen Neuaufbau der Beziehung gibt.
Häusliche Gewalt beginnt oft sehr schleichend mit Blicken, mit kleinen Gesten, mit Worten und findet häufig sehr subtil statt.
Selbst für Betroffene ist sie oft lange nicht zu greifen. Aus diesen Gründen bleibt häusliche Gewalt öffentlich häufig lange unbemerkt – auch weil sie oft einhergeht mit sozialer Isolation. Die nach wie vor verbreitete Haltung, dass alles, was hinter verschlossenen Türen geschieht Privatsache sei, trägt dazu bei.
Eigene Angst, Schuld- und Schamgefühle erschweren es den Betroffenen zudem, sich Hilfe zu suchen.
Statistiken bilden daher meist nur einen Bruchteil der tatsächlichen Fälle ab und können aus unterschiedlichen Gründen stark verzerrt sein. Dennoch sind auch selbst Zahlen aus dem Hellfeld alarmierend: so gab es im Jahr 2023 etwa 256.000 Opfer häuslicher Gewalt.
70,5 % der Opfer waren weiblich, 75,6 % der Täter waren männlich. 24,3 % der bekannten Opfer waren Kinder. Wie viele Kinder darüber hinaus „lediglich“ Zeugen häuslicher Gewalt wurden, ist nicht bekannt, dies ist nach wie vor wenig erforscht.
Erschreckend: die genannten Zahlen steigen seit Jahren stetig an.
Besonders eindrücklich schilderte Frau Birgit Köppe-Gaisendrees, Leiterin der Ärztlichen Kinderschutzambulanz Bergisch Land e.V., in ihrem Vortrag die medizinischen, psychischen und sozialen Folgen häuslicher Gewalt aus Sicht der Praxis.
Dabei bezog sie sich in besonderer Weise auf die Auswirkungen, die sich für die ganz kleinen Kinder im vorsprachlichen Bereich ergeben. Gerade in diesem Alter sind der Aufbau von Bindung und Bindungssicherheit zentrale Entwicklungsthemen.
Eine sichere Bindung bildet das Fundament für die Bewältigung von Stress- und Angstsituationen.
Betroffene Kinder sind und bleiben hochgradig verletzlich. Besonders schwerwiegend dabei ist, dass die Personen, die eigentlich Schutz, Sicherheit und Orientierung für die Kinder bieten sollten, diese Rolle nicht ausfüllen, ja sogar in das Gegenteil verkehren. Der eigentlich beschützende Mensch wird zum Bedroher / zur Bedroherin oder zum Opfer. Das Ganze geschieht noch dazu in einem vermeintlich sicheren Umfeld, dem Zuhause der Kinder.
Statt Sicherheit und Geborgenheit erleben die Kinder eine diffuse und existentielle Angst.
Kinder können infolge dessen wiederholt von Gefühlen wie Angst, Ohnmacht und Scham überflutet werden. Zudem zeigen sie häufig eine ausgeprägte Anfälligkeit für die Entwicklung von Traumata oder anderen psychischen Störungen. Charakteristisch sind auch eine erhöhte emotionale Labilität sowie eine übermäßige Sensibilität gegenüber den Stimmungslagen anderer Menschen. Nicht selten treten darüber hinaus psychosomatische Beschwerden auf.
Im eigenen Verhalten begeben sich die Kinder vielfach in eine beschützende Rolle, z.B. mit der Vorstellung, weitere Übergriffe verhindern zu können. Diese sogenannte „Parentifizierung“ bedeutet aber Verzicht auf die eigene Autonomieentwicklung. Das betroffene Familienmitglied wird z.B. nicht mehr alleine gelassen o.ä..
Nicht selten bilden sich Verhaltensmuster, die eine Aufrechterhaltung des gewalttätigen Milieus über Generationen hinweg begünstigen. Zur Kompensation der erlebten Angst kann es dabei einerseits zu einer Täteridentifikation kommen: Betroffene übernehmen gewalttätige Verhaltensmuster, Täterverhalten und tragen diese weiter.
Andererseits besteht die Möglichkeit einer fortwährenden Viktimisierung, bei der die Betroffenen in der Opferrolle verharren, die erlebte Gewalt relativieren und die Schuld bei sich selbst suchen.
- Die Präsentation des Vortrages von Frau Köppe-Gaisendrees kann man hier herunterladen.
Der Kreis der Fachtagsbesucher_innen war bunt. Es fanden sich Mitarbeitende aus allen Feldern der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, angefangen bei Kolleg_innen aus der Kindertagesbetreuung bis hin zu Kolleg_innen von Berufsfördermaßnahmen. Das gesamte Spektrum der Kinder- und Jugendhilfe war vertreten, genauso wie Kolleg_innen aus dem Gesundheitsbereich, wie z.B. Kinderärzt_innen, Mitarbeitende der Frühförderstellen und des Gesundheitsamtes. Last but not least fanden sich zahlreiche Kolleg_innen der Polizei, der Staatsanwaltschaft und Richter_innen unter den Teilnehmenden.
Bei einer abschließenden Podiumsdiskussion kamen Vertreter und Vertreterinnen der anwesenden Berufsgruppen ins Gespräch. Souverän moderiert wurde auch diese Runde von Annelie Molapisi und Marie Boose.
Neben Frau Köppe Gaisendrees diskutierten Thomas Laurs, Familienrichter vom Amtsgericht in Eschweiler und Frau Schlenkermann-Pitts, Oberstaatsanwältin aus Aachen sowie Frau Gey von der Beratungsstelle für Frauen und Mädchen und Interventionsstelle bei häuslicher Gewalt.
Aus dem Kreis des Netzwerkes „Im Blick“ nahmen Jochen Hoffmann, Opferschutzbeauftragter der Polizei NRW und Dagmar van Heiss, Leiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes in Würselen teil.
Hier gelang es über die aktuelle Ausgangslage, über bestehende Hürden, über Handlungsoptionen, neue Arbeitsansätze und konkrete Kooperationsformen ins Gespräch zu kommen.
Besonders Frau Gey und Frau van Heiss wiesen darauf hin, dass in ihrer alltäglichen Praxis eine Unterbrechung der häuslichen Gewalt oft schwierig durchzusetzen ist.
Das hängt auf der einen Seite damit zusammen, dass sich eine Trennung schon alleine aufgrund äußerer Faktoren und Hindernisse häufig schwierig gestaltet; als Stichworte wurden u.a. die Wohnungsnot und der Mangel an Plätzen in Frauenhäusern genannt.
Auch wenn Täter oder Täterinnen durch die Polizei weggewiesen würden, dauert ein Näherungsverbot in der Regel erst einmal nur 10 Tage. Danach muss das Zusammenleben eventuell fortgesetzt werden.
Und selbst wenn eine Trennung gelingt, ist die Gefahr besonders in kleineren Städten und Gemeinden groß, sich wieder über den Weg zu laufen.
Gerade auch wenn Kinder betroffen sind, verhindert das Umgangsrecht außerdem eine dauerhafte räumliche Grenze zwischen Täter oder Täterin und Opfern. Umgangsrecht geht hier vielfach vor Opferschutz, sodass die Betroffenen immer wieder mit alten Beziehungsmustern konfrontiert werden.
Der Wunsch aus der Runde war folglich, dass Opferschutz vor Umgangsrecht gelten muss.
Es wurde auch auf die Gefahr hingewiesen, dass Kinder und Kinderschutz vor allem bei Trennungen häufig instrumentalisiert wird. Es sei also wichtig, hier besonders gut hinzuschauen.
In ihren Handlungsabläufen ist es der Polizei in Aachen in den letzten Jahren immer mehr gelungen, besonders auch die Kinder als Opfer mit in den Blick zu nehmen. Es gibt z.B. ein internes Fortbildungsangebot zu diesem Thema, sodass die Kollegen und Kolleginnen bei einem Einsatz vor Ort verstärkt auch auf die Situation der Kinder und gefährdende Momente achten.
Besonders in der Zusammenarbeit im Strafverfahren ist den Beteiligten wichtig, dass eine enge und unkomplizierte Zusammenarbeit von Strafverfolgungsbehörden und Jugendhilfe gelingt.
Ein Wunsch wäre es, Kinder in Gewaltschutzverfahren konsequenter in den Blick zu nehmen, z.B. durch stetige Begleitung während eines Strafverfahrens durch einen Verfahrensbeistand.
Auch kurze Wege für einen Austausch werden als sinnvoll erachtet, um sich ein umfänglicheres Bild für die aktuelle Situation der Familie machen zu können. Datenschutzrechtliche Hindernisse und wenig Klarheit über Zuständigkeiten in den Jugendämtern vor Ort, erschweren das sehr.
Im Hinblick darauf schlägt die Runde die Schaffung einer „Koordinierungsstelle“ vor.
Hier könnten Ressourcen gebündelt oder auch umverteilt werden. Auch Rückfragen zum Umgang mit Kindern oder die Durchführung von Fallkonferenzen könnten hier bedient werden.
Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung, so ist es in den UN-Kinderrechten festgeschrieben. Das sichere und gesunde Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen bildet die Grundlage für die Möglichkeit eines jeden Kinders auf seine individuelle Entwicklung und Entfaltung.
Der Fachtag hat deutlich gemacht, wie wichtig es ist, vor allem die Kinder in Fällen häuslicher Gewalt immer mit in den Blick zu nehmen – und im Blick zu behalten. Wir haben es hier mit einer besonderen und nicht zu unterschätzenden Form der Kindeswohlgefährdung zu tun.
Deutlich wurde auch: Kinderschutz kann nur gelingen, wenn alle Beteiligten eng zusammenarbeiten – über Fach- und Institutionsgrenzen hinweg. Der Wunsch nach kurzen Wegen, klaren Strukturen und einem vertrauensvollen, persönlichen Miteinander, war bei allen Beteiligten spürbar.
Denn Kinder dürfen nicht übersehen werden oder alleine bleiben mit dieser schweren Last. Ihr Schutz ist unsere gemeinsame Verantwortung.
Die noch bessere Vernetzung der beteiligten Akteure und die Verbesserung der interdisziplinären Zusammenarbeit waren die herausragenden Anliegen dieses Fachtages.
Das Netzwerk „ImBlick“ will dabei aktiv an Verbesserungen beitragen.
Nachtrag: Ein besonderer Dank gilt den Mitarbeitenden der Eventlocation „Scheunentraum“ in Aachen (hier klicken), die maßgeblich dazu beigetragen haben, einen hervorragenden Rahmen für die Tagung und den fachlichen Austausch zu schaffen.